Mit der Entwicklung von fünf digitalen Tools werden Industriebetriebe und der Gebrauchtmaschinenmarkt wirtschaftlich miteinander verbunden, wodurch Assets bis zu 100 % wiederverwendet werden.
Der Großteil der Maschinenteile in der Produktion – wie Roboterarme oder Förderbänder – erreicht nicht ihre maximale Lebensdauer und werden vorzeitig aussortiert. Schätzungen zufolge werden in der Automobilindustrie bis zu 70 % der Produktionsbetriebsmittel vorzeitig außer Betrieb genommen, verschrottet oder bestenfalls als Ersatzteile verkauft. Das ist nicht nur unwirtschaftlich, sondern auch nicht nachhaltig. Ein Punkt, an dem im Zuge des europäischen Green Deals mit dem Ziel, bis 2050 klimaneutral zu sein, angesetzt werden muss.
EU-Projekt ALICIA schafft Kreislaufwirtschaft für Produktionslinien
Denn gäbe es eine Kreislaufwirtschaft für Produktionsmittel, ein sog. Circular Manufacturing Ecosystem (CME), können Geld und Ressourcen gespart werden. Bisher gibt es jedoch keine effiziente Verbindung einerseits zwischen den Industriebetrieben untereinander und andererseits dieser Betriebe zum Gebrauchtmaschinenmarkt, damit Abgeber und Abnehmer mit Maschinen und Maschinenteilen handeln können.
Das wird nun im EU-Projekt ALICIA geändert. ALICIA steht für assembly lines in circulation, also Montagelinien im Umlauf. Zwölf Partner aus Forschung und Industrie entwickeln innerhalb von drei Jahren verschiedene smarte, digitale Tools für eine nachhaltige Nutzung von Produktionsressourcen. Koordiniert wird das Projekt von der Technischen Universität München (TUM).
Durch die Entwicklung innovativer digitaler Werkzeuge zielt das Projekt darauf ab, effiziente wirtschaftliche Verbindungen zwischen industriellen Akteuren und dem Gebrauchtmaschinenmarkt herzustellen. Diese strategische Verknüpfung ermöglicht eine 100%ige Wiederverwendung von Vermögenswerten und fördert somit Nachhaltigkeit und Ressourcenoptimierung. Diese digitalen Werkzeuge schaffen eine neue Art der Kreislaufwirtschaft – das CME.
ALICIAs Vision: In fünf bis zehn Jahren werden Produktionsressourcen, wie ganze Produktionslinien, einzelne Maschinen und Ersatzteile, so lange unter den einzelnen Fabriken in Europa gehandelt und wiederverwendet, bis ihre Lebensdauer maximal ausgeschöpft wird. Ziel der ALICIA-Online-Plattform ist es, Käufer von Produktionsmitteln mit Anbietern zusammenzubringen. Darüber hinaus werden Dienstleister integriert, wie z. B. KMU, die Wiederaufbereitungsdienste anbieten, oder Recyclingunternehmen, die ihre Dienste Fabrikbesitzern anbieten können. Die Plattform wird durch eine Reihe innovativer digitaler Werkzeuge unterstützt, die den Prozess der Identifizierung und Auswahl geeigneter gebrauchter Montageanlagen für neue Produktionslinien vereinfachen und die Integration dieser gebrauchten Anlagen in moderne Montagesysteme ermöglichen.
Fünf digitale Tools schließen das CME
Ein Fabrikbesitzer oder Betriebsleiter benötigt eine neue Produktionsanlage. Mithilfe einer maschinenlesbaren Ontologie werden seine Anforderungen an eine Second-Hand-Anlage digital abgebildet. Dabei werden neben produktionstechnischen Faktoren auch soziale, wirtschaftliche und Umweltaspekte beachtet. Denn wenn die Mitarbeiter mit der angeschafften Maschine nicht arbeiten können oder deren verbleibende Lebensdauer nicht wirtschaftlich ist, ist ein Second-Hand-Kauf wenig sinnvoll. Durch einen auf den Menschen ausgerichteten Ansatz soll das Projekt die Umschulung und Fortbildung von Arbeitnehmern ermöglichen. Darüber hinaus soll die maschinenlesbare Ontologie dafür sorgen, dass Frauen die gleichen Chancen haben, sich am Modell der Kreislaufwirtschaft zu beteiligen und davon zu profitieren.
Der Online-Marketplace verbindet die Akteure des Second-Hand-Geschäfts. Darunterfallen nicht nur Käufer und Verkäufer sowie Gebrauchtmaschinenhändler, sondern auch Dienstleister im Bereich der Wiederaufbereitung oder des Recyclings. Der Marketplace findet im CME sowohl Anwendung, um eine für den Kunden passende Maschine zu finden, als auch um seine abgeschriebenen Anlagen wiederum anderen Fabriken anzubieten. Ein bereits bestehender Online-Marktplatz, der Market 4.0, wird im Laufe des Projektes u. a. mit den realen Daten des Industrieauktionshauses für Gebrauchtmaschinen Surplex erweitert. Surplex wird als Drehscheibe fungieren und den Vermittlungsprozess zwischen bestehenden und gebrauchten Fabrikanlagen erleichtern. Neben einer eigenen Datenbank für Gebrauchtanlagen wird Surplex das Know-how für eine ähnliche Plattform für den Verkauf von Gebrauchtanlagen einschließlich der internen Datenstrukturen und Prozesse zur Verfügung stellen.
Eine AI Matchmaking Engine vergleicht das Angebot auf dem Marketplace von verfügbaren fabrikinternen Produktionsmaschinen, anderen Second-Hand-Anlagen und Maschinen- und von potenziellen Neumaschinen (um die Lücken im Design der Montagelinie zu schließen, die nicht durch Second-Hand-Maschinen abgedeckt werden können) mit den Anforderungen des Kunden in der maschinenlesbaren Ontologie. Sie wählt die beste Kombination von Ressourcen für die gewünschte Montagelinie aus.
Um den Fabrikbesitzer zu überzeugen, wird ein Digitaler Shadow (DS) der für ihn gematchten Produktionsanlage erstellt. Der DS ist ein Modell einer zukünftigen Second-Hand-Linie. ALICIA wird die Grenzen des Stands der Technik erweitern, indem es einen „halbautomatischen“ DS entwickelt, der Daten über verfügbare Produktionsressourcen, die automatisch vom Marketplace eingespeist werden, mit manuell eingegebenen CAD-Modelldaten kombiniert. Dieses digitale Abbild der potenziellen Second-Hand-Linie simuliert die Produktionsleistung, indem es die Daten der einzelnen Maschinen miteinander kombiniert. Sobald die reale Second-Hand-Linie gebaut wurde, wird der Digital Shadow zu einem Digital Twin (DT) weiterentwickelt. Der DT wird in Echtzeit mit Produktionsdaten von den Maschinensensoren und anderen Quellen gespeist. Der DT ist also das virtuelle Abbild eines realen Systems, z. B. der Produktionslinie.
Für den reibungslosen Aufbau und die unverzügliche Inbetriebnahme der Second-Hand-Linie wird eine Plug & Produce Middleware eingesetzt. Plug-and-Produce-Konzepte beruhen auf der Idee, dass jedes Gerät mit einer Verwaltungsschale (administration shell) ausgestattet ist. Diese enthält alle Maschinendaten wie deren Eigenschaften, Parameter und Schnittstellen. In der Industrie 4.0 müssen alle Produktionskomponenten untereinander störungsfrei miteinander kommunizieren können. Dafür bildet die automatisiert lesbare Dokumentation auf der Verwaltungsschale die Grundlage. Da der Fertigungsbetrieb nun aus einer Mischung aus neuen und gebrauchten Maschinen verschiedener Hersteller besteht, wird durch die Plug & Produce Middleware maximale Interoperabilität geschaffen.
Zum Schutz der Nutzerdaten wird ALICIA sowohl Cloud-basierte als auch On-Premise-Lösungen anbieten, die den Nutzern die vollständige Kontrolle über die Nutzung ihrer Daten ermöglichen. Die Lösungen können bei Bedarf lokal installiert und betrieben werden.
Was bedeutet ALICIA für die europäische Industrie?
Produktionsverantwortliche können bis zu 40 % schneller und mindestens um die Hälfte günstiger eine gebrauchte Produktionslinie erwerben, als dass sie eine neue gebaute installiert bekommen. Durch die maximale Ausnutzung der Maschinenlebensdauer kann der Material- und Energieverbrauch um bis zu 80 % im Vergleich zur Neumaschine reduziert werden. Mit dem geschlossenen ALICIA-Kreislauf können Assets bis zu 100 % wiederverwendet werden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass das EU-Projekt ALICIA an vorderster Front der nachhaltigen Produktion steht und digitale Innovationen nutzt, um einen effizienteren und umweltfreundlicheren Ansatz für die Nutzung von Produktionsressourcen zu schaffen. Durch seine strategischen Initiativen und kollaborativen Bemühungen ebnet ALICIA den Weg für eine Zukunft, in der die Prinzipien der Kreislaufwirtschaft die Entwicklung der verarbeitenden Industrie hin zu mehr Nachhaltigkeit und Ressourceneffizienz vorantreiben. Damit trägt ALICIA zu einer Erhöhung der Widerstandsfähigkeit der EU gegen Störungen in globalen Lieferketten bei und leistet einen wesentlichen Beitrag zur Schaffung einer Kreislaufwirtschaft.
ALICIA wird von der Europäischen Union mit knapp 5,86 Mio. Euro unter der Projektnummer 101091577 im Rahmen des Horizon-Programms gefördert. Das Projekt begann offiziell im Januar 2023 und hat eine Laufzeit von drei Jahren.
Die zwölf Projektpartner sind:
- Institut für Werkzeugmaschinen und Betriebswissenschaften (iwb) an der Technische Universität München (Deutschland) (Projektkoordinator)
- Comau S.p.A., Grugliasco (Italien)
- Conti Temic microelectronic GmbH, Ingolstadt (Deutschland)
- DIN Deutsches Institut für Normung e. V., Berlin (Deutschland)
- ECI-Mechatronics GmbH, Schwaz (Österreich)
- INTRASOFT International S.A. (Luxemburg)
- Institut Mines-Télécom (IMT), Palaiseau (Frankreich)
- Laboratory for Manufacturing Systems & Automation (LMS) an der Patras University (Griechenland)
- mts Consulting & Engineering GmbH, Fürstenbeck (Deutschland)
- Surplex Iberica SLU, Barcelona (Spanien)
- Institut für Maschinenbau- und Betriebsinformatik (mbi) an der Technische Universität Graz (Österreich)
- YAGHMA B.V., Delft (Niederlande)
ALICIA wurde mit Mitteln aus dem Forschungs- und Innovationsprogramm Horizon Europe der Europäischen Union (EU) unter der Projektnummer 101091577 gefördert.