Hinzu kommt eine Marktüberschwemmung durch Billig-Importreifen aus Fernost und mangelnde Unterstützung seitens der Politik, etwa durch angemessene Schutzzölle, was vermehrt zur Schließung deutscher Standorte von namhaften Reifenherstellern führt. Auch der zukunftsfähige Markt für runderneuerte Reifen, die bei identischer Qualität, Sicherheit und Performance wie Neureifen klare ökologische und gesamtwirtschaftliche Vorteile bieten, leidet unter den Rahmenbedingungen. Mit Reifen Hinghaus musste jetzt auch der letzte deutsche Reifenrunderneuerer für Pkw & Lkw daraus Konsequenzen ziehen und einen Antrag auf Insolvenz stellen.
Geschäftsführer Mark Hinghaus-Kaul bedauert, die Insolvenz beantragen zu müssen – trotz der erwiesenen Qualität der runderneuerten King-Meiler Pkw- und Transporter-Reifen und modernster Technologie. Das Amtsgericht Osnabrück hat nun durch Beschluss vom 23.04.2024 Rechtsanwalt Dr. Peter Jacob aus Osnabrück zum vorläufigen Insolvenzverwalter bestellt. An
einem Sanierungskonzept wird gearbeitet.
Das vor über 70 Jahren gegründete Traditionsunternehmen hat sein Portfolio wiederholt marktgerecht angepasst und die Prozessabläufe modernisiert. Beispielsweise stattet der Chemiekonzern BASF alle Dienstfahrzeuge des Standorts Ludwigshafen sukzessive mit runderneuerten Qualitätsreifen der Marke King-Meiler aus. Zudem hat Reifen Hinghaus in Forschung und Entwicklung sowie in neue Materialien für die Runderneuerung investiert. Unter anderem wurden Compounds optimiert und eigene Laufflächenmischungen entwickelt.
Das gemeinsame Engagement mit der Allianz Zukunft Reifen (AZuR), die das Thema Runderneuerung mit politischen Appellen, Messeauftritten, Fachvorträgen und der positiven Ökobilanz der Runderneuerung durch das Fraunhofer-Institut unterstützt, habe zudem in den vergangenen Monaten zu „vermehrtem Zuspruch durch die Bevölkerung und wachsender Aufmerksamkeit in Medien und Politik“ geführt. Doch die „schlechte marktwirtschaftliche Lage im Land, der Preisdruck im Energiesektor, die Billig-Importreifen und die Versäumnisse in der Politik haben uns zu diesem Schritt geführt“, betont Hinghaus-Kaul.
Auch wenn das Umweltbewusstsein in der Bevölkerung wächst und in der Politik endlich die ökologischen und gesamtwirtschaftlichen Vorzüge der Runderneuerung gesehen werden, ist der Veränderungsprozess aus Sicht von Hinghaus-Kaul „zu behäbig“. Es sei nicht abzusehen, ob und wann „Maßnahmen wie die Erhebung von angemessenen Zöllen auf Billigreifen zum Schutz hiesiger Produkte greifen können und kommunale Fuhrparks endlich konsequent mit runderneuerten Reifen ausgestattet werden“.
Die vorläufige Insolvenz bedeutet für Mark Hinghaus-Kaul noch nicht unbedingt das Ende. Reifen-Hinghaus strebe „ein Verfahren in Eigenverwaltung an, was uns in die Lage versetzen soll, Investoren zu finden und die Fortführung nach Umstrukturierung mit wenigstens teilweiser Übernahme des Teams zu ermöglichen“.
AZuR-Netzwerk-Koordinatorin Christina Guth bedauert den Antrag des letzten deutschen Runderneuerungsunternehmens für Pkw- und Lkw-Reifen auf Insolvenz, mit dem wir „seit Gründung von AZuR engagiert und vertrauensvoll zusammengearbeitet haben, um mit der Runderneuerung auch die gesamte Reifen-Kreislaufwirtschaft voranzubringen. Doch gegen die steigende Marktüberflutung aus Fernost, die schlechten wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, hohe Energiepreise und mangelnde Unterstützung der Politik hat die Reifen Hinghaus GmbH bei allem Engagement einen schlechten Stand“.
Dennoch ist Guth davon überzeugt, dass die Runderneuerung in Deutschland und Europa eine Zukunft haben kann, wenn alle Marktakteure an einem Strang ziehen und das Projekt unterstützen: „Die Runderneuerung von Reifen ist ein Paradebeispiel für die gelungene Umsetzung einer nachhaltigen Kreislaufwirtschaft, die maßgeblich zur notwendigen Transformation des europäischen Verkehrswesens und zur Erreichung der Ziele des Green Deal beitragen kann“. Aktuell gibt es in Deutschland immerhin rund 50 Betriebe, die runderneuerte Markenreifen für Lkw, Transporter, Bagger, Traktoren und Nutzfahrzeuge aller Art herstellen.
Auch die politischen Rahmenbedingungen haben sich in den vergangenen Monaten zugunsten der Runderneuerung verbessert. Die aktuellen EU-Kriterien für die umweltorientierte öffentliche Beschaffung im Bereich Straßenverkehr führen runderneuerte Reifen seit Juni 2023 auch für Pkw, leichte Nutzfahrzeuge und ihre Anhänger an. Das ermöglicht Behörden, Kommunen und öffentlichen Betrieben die rechtssichere Ausstattung sämtlicher Fahrzeuge mit runderneuerten Reifen.
Da Bundesbehörden nach § 45 des Kreislaufwirtschaftsgesetzes (KrWG) zudem verpflichtet sind, bei der Beschaffung Produkte zu bevorzugen, die rohstoffschonend, energiesparend, abfallarm, reparierbar, schadstoffarm oder recyclingfähig sind, müssten aus Sicht der AZuR-Netzwerk-Koordinatorin „alle Fahrzeuge der öffentlichen Hand sukzessive mit runderneuerten Reifen ausgestattet werden“.
Dennoch bedarf es aus Sicht von Christina Guth weiterer Gesetzesänderungen, um die Zukunft der Runderneuerung zu sichern. Die Aufnahme runderneuerter Reifen in die Reifenkennzeichnungsverordnung steht beispielsweise ebenso noch aus wie eine Richtlinie für migrations- und emissionsbasierte Messverfahren und Vorschriften wie die ECE117 für runderneuerte Reifen.
Wenn die EU hier nicht bald handelt und die Zielkonflikte zwischen Kreislaufwirtschaft und Chemikalienrecht bereinigt, droht das Aus für die Runderneuerung und den Green Deal, fasst die AZuR-Netzwerk-Koordinatorin zusammen.
Da auf europäischer Ebene dringend gesetzliche Regelungen getroffen werden müssen, um den nachhaltigen Umgang mit Altreifen im Sinne einer Circular Economy sicherzustellen, hat AZuR eine Altreifen-Resolution an die EU vorbereitet. Diese soll nicht nur von den AZuR-Partnern, sondern auch von auf Nachhaltigkeit bedachten Unternehmen, Verbänden und NGOs unterstützt werden: „Reifen sind ein unersetzbares Produkt für unsere Mobilität und ein wertvoller Rohstoff, der im Wertstoff-Kreislauf gehalten werden muss. Alle in der EU eingesetzten Reifen müssen in der EU wiederverwertet bzw. recycelt werden. Neureifen müssen möglichst nachhaltig hergestellt – Altreifen so weit wie irgend möglich durch Runderneuerung, stoffliche oder chemische Verwertung im Wertstoff-Kreislauf gehalten werden. Die Basis unseres wirtschaftlichen Handels muss stets die Wertstoff-Pyramide sein.“ Die Resolution soll am 4. Juni 2024 auf der THE TIRE COLOGNE offiziell unterzeichnet werden: