Weltweit entsteht über eine Tonne Windelmüll pro Minute. Allein in der EU werden jährlich mehr als 20 Milliarden Einwegwindeln produziert. Diese bestehen aus einem komplexen Gemisch aus Polyethylen-, Polypropylen sowie Cellulose- und superabsorbierenden Kunststofffasern. Letztere sind hauptsächlich aus körnigem Natriumpolyacrylat gefertigt, einem chemischen Verbundstoff, der das Hundertfache der Masse einer Windel absorbieren bzw. aufnehmen kann. Alle diese Materialien gelten als wertvolle, wiederverwendbare Ressourcen, die am Ende ihres Lebenszyklus meistens verbrannt oder deponiert werden und damit unwiederbringlich verloren gehen.
Der Grund: Eine Trennung und damit saubere Recyclierung ist aufwendig und teuer und damit für die Industrie im Sinne einer Kreislaufwirtschaft bisher nicht oder nur in unzureichender Qualität umzusetzen. „Um die jährlich über 3.5 Millionen Tonnen an Windelmüll erstmals als wichtige Rohstoffquelle zu nutzen, hat eine Arbeitsgruppe des Austrian Centre of Industrial Biotechnology (acib) am Standort Tulln Überlegungen zur Entwicklung eines völlig neuen biotechnologischen Ansatzes zum Windelrecycling angestellt.
Enzyme als umweltfreundliche Helfer
Im Zentrum der Technologie steht – nach einem ersten Reinigungsschritt der Windeln – der Einsatz von Enzymen. „Enzyme sind biologische Katalysatoren aus Bakterien und Pilzen, die zahlreiche biologische und chemische Prozesse steuern und in Gang bringen. Die Enzyme die wir einsetzen, das sind unter anderem Cellulasen, sind in der Lage, die Windelfasern zu trennen und zu recyceln, woraufhin Cellulosefasern zum Grundstoff Glukose abgebaut und folglich als Nährstoffquelle fermentativ genutzt werden können“, erklärt acib-Wissenschaftlerin Sara Vecchiato, die ebenso am Institut für Umweltbiotechnologie an der BOKU Wien forscht. Die enzymatischen Abbauprodukte der Kunststofffasern sind wertvolle Grundbausteine für chemische Verfahren oder der Herstellung von Bioethanol und neuen Polymeren.
Der Vorteil der Technologie ist, dass sie einfach und in reiner Form rückgewonnen werden können. Zudem kann Erdöl, das nach wie vor als Grundbaustein für die in Windeln verarbeiteten Polymere herangezogen wird, eingespart und somit die Umwelt geschont werden. „Anders als bei der thermischen Verwertung des Windelmülls entsteht beim acib-Verfahren außerdem kein CO2. Während des gesamten Prozesses benötigen wir auch keinerlei gefährliche Chemikalien. Das Recyclingverfahren findet bei Raumtemperatur statt, benötigt keine aufwändige und kostspielige Infrastruktur und stellt eine damit eine umweltfreundliche Maßnahme dar, die Effekte des Klimawandels einzubremsen“, betont Vecchiato.
Einsatz in der Industrie geplant
„Derzeit liegen sehr vielversprechende Ergebnisse zu dem neuen Verfahren im Labormaßstab vor. Um letztendlich einen industrietauglichen Prozess zu etablieren, wird das enzymatische Verfahren aktuell weiterentwickelt und verbessert“, erklärt Matthias Slatner, Open Innovation Manager am acib in Tulln. Der Schwerpunkt liegt dabei aktuell bei der Entwicklung und Optimierung geeigneter Enzyme mit Blick auf eine kommerzielle Anwendung. „Wir gehen davon aus, dass etwa drei Jahre an weiteren Forschungs- und Entwicklungstätigkeiten im Labor nötig sein werden, bis wir so weit sind“, gibt Vecchiato preis, die hofft, dass neben einer Prozessoptimierung in weiterer Folge eine Patentierung des Know-hows umgesetzt werden wird.
Ziel der Forscher ist es einerseits, einen Partner aus der Wirtschaft für die Umsetzung des Verfahrens zu gewinnen. Andererseits sollen in weiterer Folge nicht-erdölbasierte Materialien für die Windelproduktion (weiter)entwickelt werden, um diese Industriesparte im Sinne der Bioökonomie „sauberer“ werden zu lassen. Das acib-Projekt wurde kürzlich für den riz up Genius Award 2020 nominiert, welcher kreative Unternehmen, Geschäftsideen und Projekte in Niederösterreich würdigt. Slatner: „Die Nominierung bestätigt das enorme Potenzial unseres biologischen Windelrecyclingansatzes, neue Geschäftsfelder zu erschließen und dabei kostbare Ressourcen und schädliches CO2 einzusparen und nicht zuletzt etwas Gutes für die Umwelt und das Klima zu tun.“