Langsam fährt das Kamerasystem über den Lithium-Ionen-Akku, der gerade dem Unfallauto entnommen wurde. Es erfasst Typ, Modellbezeichnung, Leistungsklasse in Kilowatt und Seriennummer und gleicht diese mit einer internen Datenbank ab. Im nächsten Schritt wird die Abdeckung des Akkus halbautomatisch entfernt. Weitere Analysen folgen. Ein Messsystem erfasst den aktuellen Ladezustand, die Funktionsfähigkeit der Steuerelektronik sowie den Zustand der einzelnen Batteriezellen. Aus den Daten erstellt eine vom Fraunhofer-Institut für Werkzeugmaschinen und Umformtechnik (Fraunhofer IWU) entwickelte Bewertungssoftware ein detailliertes Zustandsprofil, analysiert dieses und gibt Empfehlungen für die Weiterverwendung. Eine erst drei oder vier Jahre alte intakte Batterie könnte beispielsweise in einem Gebrauchtwagen gleichen Typs eingesetzt werden. Ist der Energiespeicher schon älter, wäre eine Verwendung in einer kleineren landwirtschaftlichen Maschine denkbar. Sind mehrere Zellen defekt, könnte die Batterie im stationären Einsatz, etwa als Stromspeicher für eine Photovoltaikanlage im Eigenheim, noch gute Dienste leisten.
Das Batteriesystem muss nicht entsorgt werden. Es bekommt ein auf seine Leistungsfähigkeit zugeschnittenes zweites Leben. Nach demselben Prinzip lassen sich auch andere Autoteile prüfen und einer sekundären Verwendung zuführen. „Entscheidend ist dabei eine sorgfältige, standardisierte und automatisierte Demontage der Einzelteile, die frühzeitig auf die mögliche Weiterverwendung der Komponenten zielt“, betont Dr. Uwe Frieß, Abteilungsleiter Karosseriebau, Montage und Demontage am Fraunhofer IWU.
Das oben erwähnte Bewertungssystem wird gerade von einem Team aus Forschenden des Fraunhofer IWU in Chemnitz entwickelt und optimiert. Die mit KI-Algorithmen ausgestattete Software bildet einen der technologischen Schwerpunkte des Projekts EKODA (Effiziente und wirtschaftliche kreislauforientierte Demontage und Aufbereitung). Dahinter steckt eine Fördermaßnahme des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), die den „Weg zur nachhaltigen Mobilität durch kreislauffähige Wertschöpfung“ beschreiten will. Neben dem Fraunhofer IWU gehören das Fraunhofer-Institut für Umwelt-, Sicherheits- und Energietechnik (Fraunhofer Umsicht) in Oberhausen und zahlreiche Industriepartner zum Projektkonsortium.
Uwe Frieß formuliert das ambitionierte Ziel des Vorhabens: „Wir wollen das klassische Recycling ablösen und betrachten jede Komponente eines Automobils als wertvolle Ressource – und zwar ganz unabhängig von ihrem aktuellen Einsatz in einem Auto. Darauf basierend arbeiten wir an einem Konzept, bei dem die einzelne Komponente auf ihre Eignung für die Weiter- oder Wiederverwendung in verschiedenen passenden Szenarien geprüft wird.“ Zudem arbeiten die Forschenden des Fraunhofer IWU an Verfahren zur automatisierten Demontage der Einzelteile. Konsequent umgesetzt entsteht ein kreislauforientiertes Nutzungskonzept für alle Komponenten. Da weniger Produkte neu hergestellt werden müssen, sinken die Kosten und die C02-Emissionen. Auch das vorschnelle Verschrotten von Autos, die noch zum Teil intakt sind, oder der ökologisch wenig sinnvolle Export von defekten Gebrauchtwagen in Länder des globalen Südens werden damit überflüssig oder reduziert.
Karosserie, Antriebswellen, Zahnräder
Neben der Analyse von Batteriespeichersystemen nehmen die Fraunhofer-Forscherinnen und -Forscher aus Chemnitz auch Teile wie Karosserie und Antriebsstrang in den Fokus. Bei Teilen des Antriebsstrangs, also Wellen oder Zahnrädern aus Stahl oder Metall, könnte auch ein Remanufacturing sinnvoll sein. So könnten Stahlwellen durch einen erneuten Formgebungsprozess verkleinert werden und anschließend in einer weiteren mobilen Anwendung zum Einsatz kommen. „Ein Zahnrad aus dem defekten Getriebe eines Autos könnte ein zweites Leben in einem refurbished Elektroroller erhalten, um nur ein Beispiel zu nennen“, erklärt Frieß. Sowohl beim Bewertungssystem als auch bei der Entwicklung von Verfahren für die automatische Demontage und die Metallbearbeitung im Remanufacturing kommt die langjährige Erfahrung des Fraunhofer IWU im Bereich der ressourceneffizienten Produktion zum Tragen.
Dynamische Aktualisierung in Echtzeit
„Das Bewertungssystem, das wir aufbauen, ist als komplexes ganzheitliches System konzipiert. Es wird neben den technischen und ökonomischen Aspekten auch ökologische Kriterien gleichberechtigt miteinbeziehen. Ein Beispiel hierfür wären CO2-Emissionen oder Energieverbrauch, die bei der Weiterverwendung entstehen“, erklärt Patrick Alexander Schmidt, Forschender am Fraunhofer IWU. „Auch Schwankungen im Strompreis wird das Bewertungssystem dynamisch und tagesaktuell einberechnen“, verspricht Schmidt.
Die Fraunhofer-Forschenden und ihre Partner wollen bei der Entwicklung und Ausgestaltung des Bewertungssystems noch einen Schritt weitergehen. Sie nehmen Lieferketten, Reparaturwerkstätten und Verwerter in den Blick. Deren Bedarfe oder Anfragen nach Ersatzteilen könnten zukünftig in den Datenpool des Bewertungssystems einfließen. Das System erkennt dann beispielsweise, dass eine Werkstatt in der Region genau jenes Bauteil für die Generalüberholung eines defekten Traktors gebrauchen kann, das gerade in der Prüfung ist. Die Automobil- und Zuliefererbranche könnte so neue Geschäftszweige ausbilden, die den nachhaltigen Einsatz aller Komponenten organisieren.
Das Fraunhofer Umsicht entwickelt als Forschungspartner im Rahmen des Projekts zirkuläre Geschäftsmodelle, die in vielen Branchen sinnvoll implementiert werden können.