Auch in unruhigen Zeiten existieren feststehende Wahrheiten. Eine davon: Abfall gibt es immer. In Deutschland stagniert die Menge an Siedlungsabfällen seit vielen Jahren auf hohem Niveau, daran haben alle Rufe nach Abfallvermeidung und Recycling nichts geändert. Die zweite: Eine sichere Entsorgung braucht die Müllverbrennung – nicht nur für den üblichen Restmüll, sondern auch für Klärschlämme und Nicht-Verwertbares aus Sortier- und Recyclinganlagen.
Eine dritte: Alle Wirtschaftszweige machen sich derzeit Gedanken, wie sie ihre Emissionen minimieren, ihre Prozesse defossilieren und Geschäftsmodelle klimafreundlich gestalten. „Die thermische Abfallbehandlung ist Teil der Wirtschaft und das Thema Klimaschutz ist bei unseren Mitgliedern angekommen“, betont Martin Treder, stellvertretender Geschäftsführer der Interessengemeinschaft der Thermischen Abfallbehandlungsanlagen in Deutschland (ITAD). Etwa 70 Prozent der Betreiber entwickeln laut Verband derzeit Konzepte, Machbarkeitsstudien und Emissionsszenarien, um auszuloten, wie die Verbrennung klimaneutral wird oder wie sie aus der Energie im Abfall Wasserstoff und Folgeprodukte erzeugen können.
Weiterhin eine CO2–Senke?
CO2-Einsparung ist für die Branche nichts Neues: Müllverbrennung substituiert fossile Energien, weil sie aus dem Abfall Wärme und Strom generiert. Zudem vermeidet sie Treibhausgase, indem sie Sekundärrohstoffe wie Metalle zurückgewinnt. Unterm Strich spart Müllverbrennung mehr Treibhausgase ein als sie verursacht. 2021 lag die Einsparung der ITAD-Mitglieder, die über 90 Prozent der deutschen Verbrennungskapazität repräsentieren, bei rund 7,4 Millionen Tonnen CO2eq. Zum Vergleich: Das sind zwei Millionen Tonnen CO2 mehr als ein scharfes Tempolimit von 100 km/h auf allen deutschen Bundesautobahnen bewirken könnte. „Thermische Abfallbehandlung ist bereits heute eine Klimasenke“, sagt Treder.
Das soll sie auch bleiben. Allerdings werden die Randbedingungen schwieriger: Die Substitutionseffekte durch die Müllverbrennung werden umso kleiner, je höher der Anteil erneuerbarer Energien im deutschen Strommix wird. Je mehr Bioabfälle getrennt gesammelt werden, umso kleiner wird der biogene Anteil im Abfall, der grünen Strom und grüne Wärme liefert. Zudem fallen mit dem Kohleausstieg Kraftwerke als große Emittenten weg. Das bedeutet, dass im „klimaneutralen Deutschland 2045“ Müllverbrennungsanlagen (MVA) zu den größten Treibhausgasemittenten gehören. Der Berliner Thinktank Agora Energiewende geht davon aus, dass im Jahr 2045 deutschlandweit etwa 63 Millionen Tonnen CO2eq Restemissionen bleiben, wovon 4 Millionen Tonnen CO2eq aus MVA stammen.
Für die Zukunft braucht es also neue Konzepte. Ein wichtiger Schlüssel zu Klimaschutz und Klimaneutralität ist die sogenannte Sektorenkopplung. Dahinter steckt die Zielvorstellung, dass die Sektoren Strom, Wärme, Mobilität und Industrie über Energienetze, -speicher und -wandler verbunden werden. Für MVA heißt das: Eine optimale Auskopplung von Wärme mit unterschiedlichen Temperaturniveaus kann die Defossilierung im Gebäudesektor voranbringen. Mit Strom, der rein rechnerisch aus den 50 Prozent biogenem Anteil im Abfall erzeugt wird, können grüner Wasserstoff oder Methanol produziert werden. Diese treiben dann Fahrzeuge an oder versorgen standortnahe Industriebetriebe.
Stadtbusse und Abfallsammler
Vorreiter in Sachen Sektorenkopplung ist die Abfallwirtschaftsgesellschaft (AWG) Wuppertal. Übers Jahr gesehen wird seit 2020 ein Sechstel des im Wuppertaler Müllheizkraftwerk (MHKW) erzeugten Stroms genutzt, um in einem 1-MW-Elektrolyseur Wasserstoff zu erzeugen. Per Brennstoffzelle können derzeit 20 Linienbusse und zwei Abfallsammelfahrzeuge mit dem Wasserstoff nahezu emissionsfrei fahren.
Im Betrieb kosten die Brennstoffzellenbusse nicht mehr als Dieselbusse. „Der Engpass ist eher die Beschaffung der Fahrzeuge, weil es dafür nur zwei Hersteller gibt“, betonte AWG-Geschäftsführer Conrad Tschersich Mitte Mai bei einer Veranstaltung der Akademie Dr. Opladen. Innerhalb der kommenden Jahre ist eine Verdopplung der H2-Flotte geplant, die erzeugte Wasserstoffmenge soll von 21 Tonnen im Jahr 2021 bis auf 50 Tonnen steigen. Den bei der Elektrolyse entstehenden Sauerstoff will die AWG künftig an ein Klärwerk des Wupperverbandes liefern, die eine Ozonisierung des Abwassers planen.
Von Wuppertal lassen sich andere MVA-Betreiber inspirieren: beispielsweise der Zweckverband Ostholstein. Voraussichtlich ab Mitte 2023 will der ZVO zunächst drei seiner Sammelfahrzeuge mit Wasserstoff antreiben. „40 Prozent unserer CO2-Emissionen stammen aus den Sammelfahrzeugen“, sagt Holger Kroll, Leiter Nachhaltigkeit beim Zweckverband. Auch die AVA Abfallverwertung Augsburg, die MVA Bielefeld-Herford und der Frankfurter Energieversorger Mainova wollen mit Strom aus ihren MHKW Wasserstoff erzeugen, der eigene Sammelfahrzeuge, Stadtbusse oder Fahrzeuge regionaler Partner antreibt. Mainova ist dabei eingebunden in ein Verbundprojekt, das eine H2-Infrastruktur für die gesamte Region rund um Frankfurt aufbauen will.
Aus Abfall wird Methanol
Noch einen Schritt weiter in der chemischen Prozesskette gehen die Planungen des Zweckverbands für Abfallbehandlung Südwestthüringen (ZASt). Am Standort der MVA in Zella-Mehlis, die jährlich 160.000 Tonnen Siedlungsabfälle entsorgt, soll ab Ende 2023 eine kleine chemische Fabrik arbeiten: Stromüberschüsse aus der eigenen KWK-Anlage erzeugen in einem 10-MW-Elektrolyseur grünen Wasserstoff. Gleichzeitig scheidet ein Aminwäscher aus dem Rauchgas einen Teil des CO2 ab. Aus beiden Gasen – H2 und CO2 – entsteht dann in einer separaten Anlage mit Hilfe von Katalysatoren klimaneutrales Methanol.
Das Methanol ist leicht zu speichern und zu transportieren, es kann die Stützfeuer der MVA und die Sammelfahrzeuge versorgen, aber auch als wertvolle C1-Grundchemikalie an die Industrie verkauft werden. Die Grundidee war ursprünglich: „Methanol ist weit lukrativer als der Verkauf unseres Überschussstroms an der fluktuierenden Strombörse“, sagt ZASt-Werksleiter Marius Stöckmann.
Strom lukrativer als Wasserstoff
Doch diese Rechnung geht so nicht mehr auf – nicht nur bei der ZASt, sondern bei allen Konzepten zur Wasserstofferzeugung aus MVA-Strom. „Ins normale Netz eingespeister Strom bringt im Moment so viel, dass sich der Bau von Elektrolyseuren nicht rechnet“, sagt Kroll vom Zweckverband Ostholstein. Die eigene Erzeugung von Wasserstoff oder gar von Methanol ist bei den hohen Strompreisen schlicht nicht mehr wirtschaftlich. „Momentan ist das Thema Stromwandlung betriebswirtschaftlich betrachtet kein Geschäftsmodell“, konstatiert auch Stöckmann.
Dazu kommt eine zweite, ebenso stark wirksame Bremse: das deutsche Genehmigungsrecht. Die Vorschriften zur Genehmigung von Elektrolyseuren sind für große Anlagen in der Chemieindustrie gemacht. Elektrolyseure gelten als chemische Anlagen und müssen deshalb ein umfangreiches Genehmigungsverfahren nach Bundesimmissionsschutzgesetz durchlaufen. „Kleine Anlagen, die gebaut werden, um als Nebenprodukt klimaneutralen Brenn- und Kraftstoff zu erzeugen, kennt das deutsche Genehmigungsrecht nicht“, sagt Umweltrechtler Prof. Hartmut Gaßner. Selbst der kleine 1-MW-Elektrolyseur der AWG Wuppertal – nicht größer als zwei Kühlschränke – musste ein umfangreiches Verfahren durchlaufen. „Am Ende stand ein 130 Seiten dicker Genehmigungsbescheid“, so Gaßner. Auch ein Wasserstoffspeicher muss ab 3 Tonnen Kapazität mit Öffentlichkeitsbeteiligung genehmigt werden, eine H2-Tankstelle braucht eine Genehmigung nach Betriebssicherheitsverordnung.
Zügige Genehmigung
Ähnliches gilt für EU-Recht. Die europäische Industrieemissionsrechtlinie unterscheidet nicht zwischen einem Großelektrolyseur und einer kleinen Nebenanlage auf dem Gelände einer MVA. Allerdings schreibt die EU-Kommission in ihrer „Electrolyser Declaration“ im Rahmen des neuen REPowerEU-Plans vom Mai: „Zu komplexe und langwierige Genehmigungsverfahren für die Herstellung und Installation von Elektrolyseuren stellen eine Herausforderung dar.“ Da aus Sicht der Kommission Planung, Bau und Betrieb von Anlagen zur Erzeugung von Energie aus erneuerbaren Quellen im Interesse der Öffentlichkeit und der öffentlichen Sicherheit liegen, sollten die Mitgliedsstaaten dafür sorgen, dass stets das zügigste Genehmigungsverfahren angewendet wird.
Ein Ausweg in Deutschland wäre die Einstufung von kleinen Elektrolyseuren im Bundesimmissionsschutzgesetz analog zu Biogasanlagen. Biogasanlagen gelten laut 4. BImSchV als Energieanlagen mit einer vereinfachten Genehmigung ohne Öffentlichkeitsbeteiligung, wobei die Verordnung klare Kapazitätsgrenzen setzt. Gaßner: „Mit einem neuen, analogen Tatbestand in der 4. BImSchV ließen sich alle bisher geplanten und laufenden Elektrolyseanlagen bei TAB als Energieanlagen zur Herstellung von Brennstoff erfassen“. Dass ohne zügige und vereinfachte Genehmigung von Elektrolyseuren kein schneller Einstieg in die Wasserstoffwirtschaft gelingt, ist auch im Berliner Klimaschutzministerium bekannt. Ob eine entsprechende Regelung im angekündigten „Sommerpaket“ vorgesehen ist, kann derzeit allerdings keiner sagen.
CO2-Preis für Siedlungsabfälle
Die ITAD sieht noch eine weitere offene Baustelle: Ab 2023 sollen MVA nach dem Brennstoffemissionshandelsgesetz (BEHG) zertifikatspflichtig werden, weil Abfälle als Brennstoffe gelten. Der Verband lehnt die BEHG-Regelung aus mehreren Gründen ab. Zum einen würden sich die Verbrennungskosten erhöhen, die Abfallgebühren könnten um 20 bis 30 Prozent steigen. Bei Abfallfraktionen mit hohem Kunststoffanteil könnten sich die Entsorgungskosten gar verdoppeln. „Außerdem hätten Zertifikate auf unsere Branche keine Lenkungswirkung, denn Müllverbrennungsanlagen sind nun mal dafür gebaut, Abfälle zu verbrennen und CO2 zu erzeugen“, konstatiert Treder. Nicht zuletzt plant die EU, „Waste Energy“ ab 2026 in den erweiterten Emissionshandel aufzunehmen. Warum also für drei Jahre einen komplexen deutschen Sonderweg installieren, der 2026 von einem anderen komplexen Mechanismus abgelöst wird?
Aufgaben der MVA wandeln sich
All diese Schwierigkeiten und Hürden bedeuten aber nicht das Aus für eine klimaneutrale Müllverbrennung und die Planungen der MVA-Betreiber. Dafür gibt es mehrere Gründe: MVA sind in Zukunft einer der wenigen großen und wirtschaftlichen Kohlenstoffquellen für die Chemieindustrie. Denn die Chemie muss, um ihre Klimaziele zu erreichen, künftig einen Großteil des Kohlenstoffs für ihre Produkte aus nicht-fossilen Quellen beziehen. Werden die Kohlekraftwerke stillgelegt, können MVA mit ihren rotierenden Massen der Stromgeneratoren zudem eine Rolle als Netzstabilisatoren spielen.
MVA sind zudem prädestiniert für komplizierte technische Prozesse, zu denen CO2-Wäsche, H2- und Methanolerzeugung zweifelsohne gehören. Sie verfügen über qualifiziertes Personal, die notwendige Infrastruktur und enge Kundenbindungen – wesentliche Voraussetzungen für die Sektorenkopplung. Und viele von ihnen liegen an geplanten Wasserstoffleitungen. „Wir halten trotz allen Schwierigkeiten an unserem Methanolkonzept fest“, sagt Stöckmann vom Zweckverband Südwestthüringen. Neue Geschäftsmodelle für MVA sind in seinen Augen nicht nur ein Beitrag zum Klimaschutz, sondern treiben die Technologieentwicklung voran, fördern innovative Arbeitsplätze und stärken die Position der Branche als wichtige Energieversorger.