Mit der neuen Unit Sprint wird heute im NEST eine Büroeinheit aus grösstenteils wiederverwendeten Materialien und Bauteilen in Betrieb genommen. Flexibel rückbaubare Trennwände aus Re-Use-Materialien teilen die Büroeinheit in zwölf COVID-19-konforme Einzelbüros auf.
Die gesamte Unit folgt dem «Design for Disassembly»-Ansatz, so dass bei Bedarf unter anderem die flexiblen Trennwände rückgebaut werden und so die Einzelbüros als Mehrpersonen-Büros verwendet werden können.
Die Fertigstellung von Sprint demonstriert, was in der Bauwirtschaft heute noch immer auf Skepsis stösst: Das Bauen mit wiederverwendeten Materialien und Bauteilen ist eine valable Alternative zum Bauen mit Neumaterial und wird den Marktanforderungen an flexibles und schnelles Bauen gerecht. „In einer Welt, in der die Ressourcen stetig knapper werden, ist kreislaufgerechtes Bauen dringlicher denn je und bildet die Grundlage zur Erreichung unserer CO2-Ziele“, betont Enrico Marchesi, Innovation Manager und Projektverantwortlicher von NEST. „Mit der Sprint-Unit haben wir uns deshalb zum Ziel gesetzt, möglichst allgemeingültige Lösungen zu finden und damit die Wiederverwendung von Baumaterialien zu vereinfachen.“
Umdenken beim Planen, Ausführen und Wirtschaften
Das Bauen mit wiederverwendeten Materialien ist ein iterativer Prozess, bei dem sich die Frage nach den verfügbaren Materialien durch den ganzen Bauprozess hindurchzieht. Damit ein solches Projekt in kürzester Zeit umgesetzt werden kann, benötigt es unter anderem ein Umdenken in der Planung und Ausführung sowie einen flexiblen Zeitplan.
„Der Faktor Zeit ist beim Re-Use immer eine grosse Herausforderung, da das wiederverwendete Material zeitgerecht gefunden werden und auch zur Verfügung stehen muss. Entgegen unseren anfänglichen Bedenken gegenüber dem knappen Zeitplan, konnten wir die Re-Use-Materialien sogar schneller als neues Material finden. Das hängt vor allem mit der aktuellen Ressourcenknappheit zusammen – zeigt aber auch, dass Re-Use keine Auswirkungen auf die Bauzeit hat“, erklärt Kerstin Müller, Architektin und Mitglied der Geschäftsleitung beim Baubüro in situ, das die Sprint-Unit geplant hat.
Auch beim Verständnis von Wirtschaftlichkeit erfordert das Bauen mit wiederverwendeten Materialien ein Umdenken. Der Mehrwert beim Re-Use liegt klar darin, dass dem Material den nötigen Respekt gezollt wird. Hans Emmenegger, Spartenleiter Zimmerei bei Husner Holzbau, sieht darin grosse Chancen: „Ich bin klar der Meinung, dass zum Beispiel Holz ein sehr dankbarer Rohstoff ist. Man kann es gut bearbeiten, was es wiederum gut wiederverwendbar macht. Wenn Holz gesund, also trocken, eingebaut wird, verliert es nicht an Wert. Im Gegenteil, es gewinnt durch die charakteristische Ästhetik sogar an Wert.“
Wiederverwendung als Booster für Innovationen
Das Bauen mit wiederverwendeten Materialien erfordert neben der Flexibilität in der Planung und Ausführung auch mehr Flexibilität in der Gestaltung. So müssen sich Planer bewusst sein, dass das gefundene Material zum Teil auch das finale Design bestimmt. „Dass wiederverwendetes Material keineswegs eine Hürde für die Gestaltung darstellt, sondern dass man mit Kreativität gestalterische Elemente erreicht, auf die man ursprünglich gar nicht gekommen wäre, zeigt Sprint eindrücklich. Ein schönes Beispiel hierfür sind die unterschiedlichen Trennwände. Einige haben wir aus Ausschuss-Ziegeln, andere aus alten Büchern und wieder andere aus altem Teppich gebaut“, zeigt Oliver Seidel, Architekt und Mitglied der Geschäftsleitung beim Baubüro in situ auf.
Die Teppichtrennwand etwa hat Jonas Schafer, Bauteiljäger beim Baubüro in situ, für Sprint entwickelt. Sie kann nach ihrer Verwendung vollständig rückgebaut werden. Forschende der Empa haben die Wand im Akustiklabor auf Luftschalldämmung geprüft.
Chancen nutzen und Grenzen erkennen
Sprint zeigt, dass Wiederverwendung in der heutigen Marktlage per se nicht billiger ist. Seidel ist jedoch überzeugt: „Sobald sich ein wettbewerbsfähiger Markt mit wiederverwendeten Materialien und Bauteilen etabliert hat, werden auch beim Re-Use Kostenvorteile anfallen. Ausserdem bin ich der Meinung, dass es z.B. eine CO2-Besteuerung braucht, die kostenmässig neue Materialien be- und gebrauchte Materialien entlastet, um so den ökologischen Mehrwert beziffern zu können.“
Re-Use bietet zudem neue Möglichkeiten. So werden gewisse wiederverwendete Materialien wie Naturstein oder automatisch schliessende Brandschutztüren auf einmal erschwinglich, im Gegensatz zu denselben Bauteilen als Neumaterial. Zudem kann das Material hinsichtlich der CO2-Einsparung bewertet werden.
Bei anderen Materialien wie Pumpen, Ventilen und anderen technischen Komponenten stellt sich hinsichtlich der Garantie und Lebensdauer die Frage, ob sich das Wiederverwenden lohnt. Es ist gut möglich, dass es sinnvoller ist, diese Komponente neu zu beschaffen. Die Überprüfung der Lebensdauer solcher technischen Komponenten ist zwar machbar, aber zeitintensiv und aufwendig. „Die Herausforderung beim Bauen mit wiederverwendeten Materialien ist es, eine Balance zwischen dem technisch Machbaren und dem technisch Sinnvollen zu finden“, so Maike Stroetmann, Abteilungsleiterin BIM CAD bei Bouygues Energies & Services.