Ziemlich genau ein Jahr nach den Grundsatzentscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts vom 30.06.2016, in denen die Richter die wesentlichen Grundsätze zur Beurteilung überwiegender öffentlicher Interessen gegen die Durchführung von gewerblichen Alttextilsammlungen aufstellten, hatte der zuständige 7. Senat nunmehr Gelegenheit, zwei Berufungsurteile des OVG Münster betreffend die Untersagung gewerblicher Sammlungen auf die Vereinbarkeit mit Bundes- und Europarecht zu überprüfen und nochmals die wesentlichen Kriterien zur Überprüfung der Gefährdung kommunaler Entsorgungsstrukturen durch gewerbliche Sammlungen zu skizzieren (BVerwG, Urt. v. 11. Juli 2017, BVerwG 7 C 35.15 / 7 C 36.15).
Hintergrund des Verfahrens
Hintergrund des Verfahrens waren Untersagungsverfügungen eines Kreises und einer kreisfreien Stadt in Nordrhein-Westfalen gegen ein internationales Entsorgungsunternehmen, welches gewerbliche Sammlungen von Alttextil- und Schuhabfällen aus privaten Haushaltungen auf dem Gebiet des zuständigen öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers angezeigt hatte. Die Vorhaben wurden aufgrund entgegenstehender überwiegender öffentlicher Interessen im Sinne von § 17 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 KrWG untersagt, da durch die Sammlung Abfälle erfasst würden, für die der öffentlich-rechtliche Entsorgungsträger bereits ein hochwertiges Sammelsystem eingerichtet habe (§ 17 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 KrWG).
Nachdem das Verwaltungsgericht Köln in erster Instanz den gegen die Untersagung gerichteten verwaltungsgerichtlichen Klagen stattgegeben hatte, hatte das OVG Münster mit Urteil vom 21. September das Urteil des VG geändert und die Klagen abgewiesen.
In seinem Urteil hatte das OVG im Wege einer europa- und verfassungsrechtskonformen Auslegung der maßgeblichen Schutzklausel des § 17 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 KrWG dargelegt, wann überwiegende öffentliche Interessen durch die Gefährdung der Funktionsfähigkeit des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers aufgrund einer wesentlichen Beeinträchtigung der Planungssicherheit und Organisationsverantwortung einer gewerblichen Sammlung entgegenstehen.
Das OVG Münster entwickelte für eine praxisgerechte Handhabung der insoweit anzustellen- den Mengenbetrachtung gewisse Faustgrößen zur Strukturierung der erforderlichen Einzelfallbetrachtung:
- Gewerbliche Sammelmengen von unter 10 % stellen regelmäßig keine Beeinträchtigung dar;
- Bei mehr als der Hälfte der von der bestehenden Sammlung des örE erzielten Sammelmengen spricht eine Vermutung für ein Schädigungspotential,
- In den verbleibendem Zwischenraum von etwa 10 % bis 50 % obliegt es dem örE, konkrete Auswirkungen auf seine Funktionsfähigkeit und auf seinen Blickwinkel der Planungssicherheit und Organisationsverantwortung plausibel zu machen.
- Gemeinnützige Sammlungen seien bei dieser Auswirkungsprognose nicht einzustellen.
Die wesentlichen Aussagen des Bundesverwaltungsgerichts
Dem tritt das Bundesverwaltungsgericht nunmehr deutlich entgegen. In dem das OVG Münster die gesetzliche Vermutungswirkung für eine wesentliche Beeinträchtigung der Planungssicherheit und Organisationsverantwortung des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers erst bei einer Überschreitung von 50 % dessen Sammelmengen ansetze, verstoße dieses gegen Bundesrecht. Im Interesse der Praktikabilität der Regelung (§ 17 Abs. 3 Satz 3 Nr. 1 KrWG) sei vielmehr in generalisierender Weise eine Irrelevanzschwelle von 10 % bis 15 % zu berücksichtigen, unterhalb derer wesentliche Änderungen der Entsorgungsstruktur typischerweise nicht zu erwarten seien. Sei die Irrelevanzschwelle jedoch einmal überschritten, bliebe es bei der Regelvermutung der Beeinträchtigung des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers.
Zudem sei entgegen der Auffassung des OVG Münster bei der Gegenüberstellung der durch den örE erzielten Sammelmenge und der Gesamtbelastung durch andere Sammlungen auch gemeinnützige Sammlungen zu berücksichtigen. Maßgeblicher Zeitpunkt sei dabei nicht die vollständige Anzeige der Sammlung, sondern die Sachlage im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht.
Beachtenswert ist weiter die Klarstellung, dass die Regelvermutung einer wesentlichen Beeinträchtigung der Planungssicherheit und Organisationsverantwortung nicht etwa dadurch widerlegt werden kann, wenn der örE Jahr für Jahr höhere Sammelmengen verzeichne. Denn bei der Beurteilung der Veränderungen für das System des örE durch neu hinzutretende private Sammlungen wie auch des Status quo sei grundsätzlich auf einen festen Zeitpunkt abzustellen, in dem die möglichen Entwicklungen Berücksichtigung finden.
Im Übrigen weisen die Richter darauf hin, dass eine Untersagungsverfügung auch später als drei Monate nach der Anzeige erlassen werden kann. Denn die in § 18 Abs. 1 KrWG genannte Frist, wonach Sammlungen spätestens drei Monate vor ihrer beabsichtigten Aufnahme anzuzeigen seien, sei keine Entscheidungsfrist. Die Frist sei vielmehr eingeführt worden, um eine angemessene Beteiligung der betroffenen öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger und einen ausreichenden Zeitraum zur Überprüfung der Zulässigkeit der Sammlung zu gewährleisten.
Konsequenzen für die kommunale Entsorgungswirtschaft
Die Revisionsurteile sind aus Sicht von Gruneberg Rechtsanwälte, welche die beklagten Kommunen in beiden Fällen erfolgreich vertreten haben, begrüßenswert, da sie sowohl den zuständigen Behörden als auch den öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgern mehr Rechtsi- cherheit bei der Beurteilung der Gefährdung ihrer kommunalen Entsorgungsstrukturen und damit für das Vorliegen überwiegender öffentlicher Interessen, die eine Untersagung gewerblicher Sammlungen rechtfertigen können, geben. Die Berechnung der Irrelevanzschwelle ergibt sich dabei allein aus einer Gegenüberstellung der Sammelmengen des öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers auf der einen Seite und der angezeigten privaten (gewerblichen und gemeinnützigen) Sammlungen auf der anderen Seite, ohne dass es dabei auf einen Rückgang oder Verlust von „Marktanteilen“ des örE – wie zuletzt durch den Bay VGH (Beschluss vom 30.01.2017 – 20 CS 16.1416) vorgenommen – ankommt.
Die Entscheidungen schaffen damit mehr Rechtsklarheit für die nach wie vor umstrittenen Regelungen zur Zulässigkeit gewerblicher Sammlungen und werden dazu beitragen den Gesetzesvollzug zu vereinheitlichen. Dies gilt insbesondere für die Irrelevanzschwelle. Die Auffassung des OVG Münster, die eine wesentliche Beeinträchtigung der Planungssicherheit und Organisationsverantwortung des örE erst dann unwiderlegbar annahm, wenn mehr als 50 % der Sammelmenge des örE durch private Sammlung erfasst wurde, erhielt durch das Bundes- verwaltungsgericht eine klare Absage. Ist somit die Irrelevanzschwelle von 10 % bis 15 % überschritten, liegt die Regelvermutung einer wesentlichen Beeinträchtigung vor. Insoweit kann etwa die im Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung vor dem Tatsachengericht zu den Akten gereichte Liste über alle bisher angezeigten privaten Sammlungen eine ausreichende Tatsachengrundlage liefern.
Auch die Bestätigung der Möglichkeit für die zuständigen Behörden, Untersagungsverfügungen auch nach Ablauf der 3-Monats-Frist nach Anzeige der gewerblichen Sammlung zu erlassen, ermöglicht einen effektiven Vollzug und dient dem im Gesetz angelegten Schutz kommu- naler Entsorgungsstrukturen.